Texte von Xenia Erdmann

Aufklärungs-Sumpf-Blüten

Bayern – potenziert mit miefiger Nachkriegszeit – und Beides potenziert mit einem klosterartig frommen Mädchenheim, in dem ich lebte.

Im Biologie-Unterricht des Gymnasiums wurden wir aufgeklärt, wie sich Tiere fortpflanzen. Bei Bienen, Hunden und Hirschen gab es Instinkte. Über Menschen lernten wir nur, sie seien gaaaanz anders – denn ihre Richtschnur seien einzig und allein die Vernunft und geistige Werte.

Ich war 11 Jahre alt und wohnte in dem Heim mit 4 anderen 11-Jährigen in einem Zimmer. Wir wussten, wie die Kinder aus dem Mutterbauch herauskommen, aber nicht, wie sie hineingelangen.

Deshalb beschlossen wir, unsere Eltern am nächsten Wochenende zu fragen, wie das Mysterium unseres Wachsens im Mutterleib zustandekam.

Als wir uns am Sonntagabend wieder im Kinderheim trafen, hatten es drei der Mädchen doch nicht gewagt, zu Hause nachzufragen.

Ich hatte mich getraut. Meine, seit langem geschiedene, Mutter hatte mir geantwortet: „Ach, Kleines, es ist schon so lange her, dass ich verheiratet war, ich habe es vergessen“.

Die fünfte, eine Pfarrerstochter, hatte von ihren Vater die folgende Antwort erhalten: „Die Menschen haben ihren Instinkt verloren. Sie wissen nicht, wie man Kinder zeugt. Deshalb gehen sie nach der Hochzeit zusammen zum Arzt und lassen es sich zeigen.“

Bis dato hatten meine eigenen Forschungen zu folgenden Ergebnissen geführt: Sehr früh schon hatte ich festgestellt, dass ich Mädchen unten herum hübscher fand, denn sie hatten keinen Wackelpudding zwischen den Beinen wie Jungen. Deshalb war ich vorerst mit meinem Geschlecht einverstanden.

Als ich aber im Alter von 6 Jahren beobachtete, dass mein gleichaltriger Freund und all die anderen Jungen gemeinen und feindseligen Leuten an die Haustür und auf den Türgriff pinkeln – und danach rasch genug weglaufen konnten, wollte ich nur noch ein Junge sein, mit ungeahnter Energie wollte ich das.

Ein noch wichtigerer Grund dafür war, dass Männer immer und überall das Sagen hatten. Fast alle Frauen meiner Umgebung benahmen sich ihnen gegenüber, als seien sie nasse Putzlappen in den Händen von Reinigungs-Personal. Das war nicht zu verstehen. Denn die wichtigeren Menschen waren doch die Frauen, sie brachten die Kinder zur Welt.

Mit etwa 3 Jahren – ich lebte damals bei meiner Oma – fand ich die Brüste meiner Oma niedlich wie flatternde Schmetterlinge und bat die Oma, an ihnen wie ein Baby nuckeln  zu dürfen. Die Oma errötete und lehnte ab. Tagelanges Quengeln half nicht.

Ich war so tief enttäuscht, dass ich vermutlich die Anatomie von Frauen gänzlich verdrängte. Jedenfalls war ich erstaunt, als sich meine Schmetterlinge zu entpuppen begannen. Sie kamen mir vor wie 2 voluminöse Lachsfilets, die an unsichtbaren Fleischerhaken baumelten – optisch nicht gerade einladend – eine andere Art Wackelpudding als bei den Jungen – allerdings Wackelpudding hoch drei – sehr störend – beim Rennen musste man das Gewippe mit beiden Händen festhalten.

Das also musste man für die Fortpflanzerei erdulden – musste man? Bei Katzen, Hündinnen und Rehen wackelte gar nichts zwischen den Pfoten. Sie besaßen eine angenehm straffe Haut – also reichten doch einfache Zitzen aus, sogar gleichzeitig für eine ganze Menge Babies.

Für Babies mochten die zappligen Störenfriede ja bequem und richtig sein – aber in der Zwischenzeit? Außerdem hatte ich damals sowieso auf keinen Fall vor, diese merkwürdigste aller Welten mit eigenen Kindern zu bevölkern, schon aus Mitleid.

Bald darauf stellte ich fest, dass Männer glotzen. Und zwar besonders oft auf die Schmetterlings-Knödel, als seien unter den Pullovern 2 Fußbälle zu finden.

Das Glotzen fand ich indiskret und noch störender als die Schmetterlinge, es machte mich wütend, wild wütend. Am liebsten hätte ich dafür Ohrfeigen verteilt. Hätte es damals irgendwo eine Burka gegeben, ich hätte sie getragen. Wenigstens gab es wallende Pullover.

Aber was ging die Anatomie der Frauen die Männer eigentlich an? Die hatten doch ihren Instinkt genauso wie wir Frauen verloren! Trotzdem ein Glück, dass sie wahrscheinlich nicht ahnten, was für eine Art Schaschlik-Variante unter den Pullovern wogte!

Wie Sträflinge, die hofften, wir könnten sie aus irgendeinem unsichtbaren Gefängnis befreien, glotzten uns die Männer an – eine sehr gestörte Spezies Mensch! Und das, obwohl sie ja fast alles bestimmten. Und die ebenso oder noch merkwürdiger gestörte Spezies Frau ließ sich, wie ich weiterhin beobachten musste, rätselhaft leicht von ihnen beeinflussen und dominieren, als hätten Männer eine Art Königsstatus. Wie gesagt, hing aber doch die Menschheit von uns Frauen ab. Wir sorgten für das Weiterbestehen der Welt! Die paar Samenspritzer, von denen die Doktoren wussten, wie sie in die Frauen hineinkamen, waren zu vernachlässigende Eintags-Phänomene.

Es dauerte also ziemlich lange, bis ich dahinterkam, dass Menschen durchaus tierisch sind.

Das unheimlich heimliche Geschenk

 

Ein wüstenheißer Wind spazierte durch die Blätter der Bäume, blies gelbgrauen Staub auf die weißen Gewänder des Heiligen Vaters.

„Empfängnis-Verhütung, liebe Brüder und Schwestern, ist eine schwere Sünde vor Gott!“ Der Papst nahm in Sao Paulo ein Bad in der Menge und sprach in die Mikrophone der Fernsehreporter.

Dicht hinter ihm zwängte sich eine heftig gestikulierende Frau, die elend und aufgedunsen aussah, ins Scheinwerferlicht. Sie schrie und ihre weit aufgerissenen geschwollenen Augen schrien mit: „Meine Kleinste starb, weil wir kein Geld für den Arzt hatten! Meinen Emanuel, keinen Meter groß, erschoss die Polizei beim Betteln! Und meinen Ricchardo im Schlaf! Kümmre dich um das Leben derer, die schon da sind! Ich bin kein Backofen für Menschen, die nicht länger leben als Brote! Und ich will nicht mehr Krieg führen gegen Julio Sanchez, damit er mich nicht berührt!“

Sie streichelte die Kugel ihres Bauches: „Senior Papst, werde du fruchtbar statt meiner! Sei du statt meiner im achten Monat schwanger! Gebäre du mein Kind! Und häng ebenso an ihm wie ich, damit du ahnst, was Schmerz heißt! Wenn schon nicht dein Verstand, dann soll es dein Fleisch begreifen! Ich spreche diesen Zauber über dich, sowahr ich Carmen Sanchez heiße!“

Die Leute ringsherum lachten wie bei einer Theater-Aufführung, klatschten, grölten, fluchten. Der Papst war schon weitergegangen.

Carmen wurde in ein Polizeiauto gestoßen.

„Seine Heiligkeit hat ja einen Schwangeren-Bauch!“ flüsterte die Frau des päpstlichen Chefkochs ihrem Mann mit sachkundiger Miene ins Ohr, als sie ihm seinen Regenschirm vorbeibrachte und dabei mit dem Papst fast zusammenstieß.

„Und der wird täglich ganz sichtbar dicker!“ stimmte ihr der Gatte irritiert zu. „Dabei fastet der Heilige Vater gerade – ich kann beschwören, dass er sich seit einer Woche von nichts als Getränken ernährt!“

Das macht er doch jedes Jahr im Advent.“

Früher hat er dabei abgenommen.“

„Wieso -„, fragte der Lieblingsdiener des Papstes bald darauf bestürzt seinen Kollegen, „wieso bringt man den Heiligen Vater nicht in die Klinik, wenn er zu sterben scheint?“ Beide durften, genauso wie die anderen Angestellten, plötzlich die Privatgemächer Seiner Heiligkeit nicht mehr betreten.

Schwer atmend und mit schmerzverzerrtem Gesicht lag der Papst währenddessen im Allerheiligsten auf dem Bett, nur mit einer Unterhose bekleidet. Zwei Ärzte hörten ihn ab.

„Meine Gedärme!“, schrie der Papst, „Meine Gedärme!“

„Wenn er eine Frau wäre“, sagte der jüngere Arzt zum anderen, „würde ich sagen: ein Bambino!“

Der magersüchtig hagere ältere Arzt, der sich würdevoll langsam bewegte, stopfte mit beiden Händen sein Lachen in den Mund zurück. Er boxte den jüngeren Kollegen in die Seite und flüsterte: „Die Geschwulst wächst von Woche zu Woche. Aber er ist nicht zu bewegen, in meine Klinik zu kommen!“

Laut fuhr er fort: „Eure Heiligkeit“, haben Sie eine Uhr verschluckt? In Ihrem Bauch tickt es.

„Vielleicht habe ich gesündigt,“ stöhnte der Papst verwirrt, „ich hatte gestern einen Traum: Die aufgedunsene Frau mit den ungewöhnlichen Augen wollte mich verführen. Sie begann, sich zu entkleiden, natürlich schloss ich die Augen. Aber meine Wimpern blinzelten ein wenig, deshalb sah ich, dass die Sünderin zur Größe einer Brombeere schrumpfte. Dann spazierte sie auf meine Zunge, was so angenehm kitzelte, dass ich sie nicht ausspuckte. Von da aus drang sie in einer Blitzattacke durch den Nabel auf meinen Bauch.

Und das Schlimmste: Meine Organe zuckten zwar von ihr weg, aber wuchsen ihr irgendwie auch entgegen, was sich sündigerweise angenehm anfühlte.“

Er konnte vor Schmerzen nicht weiterreden, keuchte lange, schnappte nach Luft, flüsterte nach einer Weile, „heute Nacht ist mir die Frau wieder erschienen, diesmal als Riesin! Ihre Stimme klang wie ein Erdbeben, als sie mir drohte: „Du sollst in Schande fallen wie eine Frau, die der Unzucht beschuldigt wird,

damit Du erlebst, wie sich diese menschenfeindlichen Gesetze anfühlen! Du sollst ein Kind gebären, an dem du unentrinnbar hängst. Der größte Wunsch deines Lebens, dein Kind großzuziehen, wird nur erfüllt, wenn du dafür sorgst, dass allen Frauen und Männern, die es wünschen, empfängnisverhütende Mittel zugänglich werden.“

„War der Traum hier zu Ende?“

„Nein, ich antwortete: ‚Es ist neben der Gottesliebe das würdigste und himmlischste Erlebnis, das Menschen auf Erden zuteil werden kann, zu spüren, wie sich die Leibesfrucht in dir ausbreitet – neun Monate gänzlich vereint mit einem hoffnungsvollen Wesen, dessen Unschuld dich beschützt! Ihr Frauen seid die einzigen, die das nicht zu würdigen und zu schätzen wissen!'“

Der schweißgebadete Papst begann zu zucken, fiel immer wieder in Ohnmacht. Aus der Unterhose und dem Melonen-dick angeschwollenen Nabel quoll Blut. Der Schwall nahm zu, öffnete den Nabel wie eine Glockenblume. Der Kopf eines Kindes strudelte feuerrot in die Arme der Ärzte.

Als der Winzling zu schreien begann, murmelte der frisch gebackene Vater ungläubig: „Nein, so ein Mini – so ein Mini!“ und fiel in einen tiefen Schlaf, ohne das Händchen des Kindes loszulassen.

Eine halbe Stunde später, als der jüngere Arzt das Kind vorsichtig in einer Obstschale zu waschen begann, schlug der Papst ängstlich und allarmiert die Augen wieder auf. Er versuchte, sich auf die Ellenbogen zu stützen, die ihm immer wieder kraftlos wegsackten, und erforschte das inzwischen gewaschene grau-rosa Körperchen seines Sprösslings behutsam mit einem Finger. Wie berauscht tätschelte er ihm dann den Rücken, flüsterte mit vor Glück zitternder Stimme:

„Dullidüh – dullidüh! – Einen Kinderarzt, bitte rasch einen Kinderarzt! Sowas will beschützt sein!“

„Aber je mehr Leute das wissen, desto gefährlicher, Eure Heiligkeit!“, brauste der Weißhaarige auf.

„Ach was – dullidüh – DIESE Aufgabe ist größer!“

„Wissen Sie denn nicht, dass ich auch Kinderarzt bin?“ fragte der Jüngere beleidigt. „Ich kann Sie beruhigen, Heiligkeit, an dem Kind ist alles in Ordnung! Aber wir müssen es bald füttern!“

Unter größter Diskretion wurde Milch von einer fremdsprachigen, muslimischen Frau besorgt, die am Vortag in der Klinik des hageren Arztes eine Totgeburt erlitten hatte.

Das Bettchen mit „Colombo“, so nannte der Papst seinen Sohn, den Eroberer neuer Dimensionen, zog er ganz nah neben sein Bett. Er streichelte ihn zart, mit schlaffen, wackligen Händen, gab ihm meist persönlich das Fläschchen.

In der ersten Woche ging es Colombo prächtig, er strampelte, krakehlte und trank gierig. In der zweiten Woche wurde er allerdings gelb und apathisch, musste in einen Lichtkasten gelegt werden.

Fast täglich erschien währenddessen Carmen Sanchez seiner Heiligkeit im Traum: „Du darfst Colombo nur großziehen“, gebot sie immer wieder, „wenn du uns Verhütungsmittel gibst, damit uns genug Kraft und Nahrung für unsere schon geborenen Kinder bleibt!“

„Vielleicht ist sie die Jungfrau Maria, die tiefer ins Innere der Menschen zu sehen vermag als ich? – Und die so klug ist, mich auszusuchen – denn sie kennt mein Herz und meine Macht -?“

Dieser Gedanke zauberte ein stolzes Lächeln in sein noch müdes Gesicht, glättete die Orangenhaut seines Bauches. „Mein Amt, meine Macht wurden mir gegeben, das spüre ich schon lange, Verkrustetes zu verändern.

Aber – aber – wie setze ich mich durch – gegen diese – diese Zähigkeit des Kirchenapparates?“

Während sich sein Körper noch schlaff in die Kissen schmiegte, wurde sein Geist immer klarer: In die Jungfrau Maria war Jesus geschlüpft, um die Welt zu verändern. Und jetzt – die tobende gewaltsame Welt schrie wieder nach Veränderung – und in ihn, den Jungmann, war deshalb jetzt Jesus herabgestiegen. Colombo war Jesus.

Aber Jesus wurde immer noch täglich magerer und blasser, schien richtiggehend zu schrumpfen.

Holt meinen Sekretär!“ verlangte der Papst. Die Ärzte schoben das Bettchen mit Jesus eilig ins Bad. „Schreib, schreib sofort!“ rief der Papst dem verblüfften Sekretär entgegen: „In Zukunft wird es die vorrangigste Aufgabe des Heiligen Stuhles und aller kirchlichen Würdenträger sein, auf jede Weise die Schwangerschafts-Verhütung zu unterstützen, für Arme kostenlos.“

Beim Notieren dieser Worte traute der Sekretär seinen Ohren nicht, während es den zwei Priester-Ärzten nicht mehr gelang, ihr Lachen zu unterdrücken.

Wie auf Knopfdruck ging es Jesus schon am nächsten Tag tatsächlich besser und er lag wieder brüllend oder schlafend neben seinem Vater.

Nach weiteren zwei Tagen wirkten beide gekräftigt und regelrecht ausgelassen, lächelten sich innig an und plauderten in einer Lall- und Schnalzsprache sowie mit Händen und Füßen. Einige Male wurde das Kind sogar vom Papst gewickelt.

Nebenan tagte die Kardinals-Konferenz: „Die über irgendeinen undichten Kanal an die Öffentlichkeit gesickerte Enzyklika muss sofort dementiert werden“ plädierte der erste Stellvertreter des Papstes hektisch.

Alle nickten bleich und übernächtigt. „Wir werden verbreiten, der Papst sei gestorben, und einen Nachfolger wählen!“ schlug der zweite Stellvertreter vor.

„Zu behaupten, er sei gestorben, ist wie seinen Tod herbeizubeten. Diese Sünde lade keiner auf sein Haupt!“ entrüstete sich die Mehrheit.

„Dann soll doch -„, meinte ein energischer junger Kardinal, „dann soll doch Kardinal Gabriello in seine Rolle schlüpfen, er sieht ihm so ähnlich – wir müssten ihn lediglich ein bisschen nachschminken!“

Diesen Vorschlag fanden die meisten genial und setzten ihn sofort in die Tat um, während die Lachmuskeln unter den Sultanen schwollen.

Noch am gleichen Tag erwähnte Gabriello in einer Pressekonferenz, es kursierten angebliche päpstliche Aussprüche, die irgendjemand auch „Enzyklika“ tituliert hätte. Das sei aber die Verwechslung mit einem Kabarett-Text. Was immer am Gerüchten kursiere, wolle er auf das Entschiedenste dementieren.

Als der echte Heilige Vater von der Pressekonferenz erfuhr, zerfetzte die Botschaft sein Gehirn. Er erkrankte an Kindbettfieber, sah klein und runzelig aus und fieberte so heftig, dass er nicht wahrnahm, dass sein Sohn in ein Kinderheim gegeben wurde.

Als die Antibiotika nach einer Woche ihre Wirkung zeigten, seine Heiligkeit wieder zu Kräften kam und in den ersten wachen Momenten sofort nach Jesus verlangte. ließ er sich suggerieren, an Fieberfantasien gelitten zu haben.

Nur im Traum bäumte sich der Papst noch einmal auf: „Warum hast du mir nicht geholfen!“, klagte er seinen Schutzengel an, „man weiß und ahnt es ja, dass in solchen Fällen nichts an die Öffentlichkeit dringt! Aber das so hautnah mitzuerleben – ist die Hölle!“

„Aber du bist weiser geworden“, tröstete ihn der Engel anerkennend, „du hast dir dein Wissen erlebt. Wenn dies Wissen auch in Zukunft deine Handlungen lenkt, mit nachsichtiger Rücksicht auf die Lebenswirklichkeit deiner Heiligkeit und der übrigen Menschen, kommst du wahrscheinlich ins Paradies und musst nicht wiedergeboren werden.“

Im Schatten der Rosen (Sappho)

 

Tamaras schmale, rosa lackierte, Finger glitten über das blaurosa geblümte Laken nach links. Kein Alexander zu ertasten, sie zuckte zusammen. Bestimmt war er schon unterwegs, ihr auch diesmal zuvorgekommen. Sie hatte sich gestern Abend endlich ihre Goldplombe herausgepult, wollte sie in aller Frühe verkaufen oder versetzen. Doch sie hatte den Wecker nicht gehört, na klar, wegen des Ohropax, wie dämlich, strohdumm! Aber ihren Mann hatte er geweckt. Eine Weihnachts-Bescherung schon zwei Tage vor Heilig Abend!

An der gegenüber liegenden Wand schaukelten sonnige Kreise langsam zwischen den rosa Blüten und den blauen Schmetterlingen. Tamara schob sich vorsichtig zum Kopfende des Bettes und richtete sich dabei auf. Schon wirbelten die Sonnenscheiben an der Wand durcheinander, auch über den Boden und die Decke. Tamaras Rücken erklomm, Wirbel um Wirbel, die schwarze Lehne des Rattanbettes. Das Bett war ein Geschenk der Mieter des Erdgeschosses, zu wuchtig für ihren kleinen Möbelwagen. Sie waren so Hals über Kopf ausgezogen, weil sie das ewige Bellen in der Tierarztpraxis nicht mehr aushielten. Für die anderen Mieter hatte es seitdem noch zugenommen, denn die Praxis hatte sich um die leer werdenden Räume erweitert.

Ein letzter Ruck und Tamara saß aufrecht. Die Sonnenkreise taumelten weiter, noch immer ohne jede Ordnung. Der Schwindel trat auf, wenn ihr Kopf die Lage wechselte: am heftigsten, wenn sie sich aus dem Liegen aufsetzte oder aus der aufrechten Position hinlegte. Es dauerte dann Minuten, bis das aufgewirbelte Kaleidoskop, in dessen Mitte sie sich befand, wieder zur gewöhnlichen Umgebung wurde. Bis sie sich von den Schränken und Wänden, an die sich verzweifelt gepresst hatte, wieder trennen konnte. „Lagerungs-Schwindel ist eine Alterserscheinung.“ Damit hatten die Ärzte Tamara allein gelassen, ihr nur gezeigt, welche Dreh-Übungen sie dreimal am Tag machen sollte. Das half aber nicht.

Auch den Kater hatte der Tierarzt mit seinen Schmerzen allein gelassen. Der Termin beim Tierarzt war so teuer, dass sie sich danach nur noch die kleine Packung Schmerzmittel leisten konnte. Sie war nach einer Woche schon aufgebraucht. Deshalb mischte sie dem Kater jetzt Aspirin in die Milch. Aber er nippte nur noch an der Milch und fraß nichts mehr außer Käse.

Es ist Tierquälerei, den Kater am Leben zu lassen, kommen Sie möglichst bald wieder!“ Das verschwitzte rote Gesicht des Tierarztes hatte sich zu ihr herabgebeugt, es roch nach feuchtem Hund. Sie musste auf seine Lippen blicken, um seine Worte zu verstehen, denn er bewegte seine Zähne kaum. Sie hatte ungläubig hinaufgestarrt. Weshalb gab er dem Kater dann nicht die Einschläferungs-Spritze, wenn es sein musste? Warum legte er sie zurück in das oberste Fach des gefährlich schwarz lackierten Schrankes? Hatte er kein Gewissen? Es war doch dann eine Sünde, den Kater auch nur eine Sekunde länger leiden zu lassen! Und nur, weil sie ihm zur Zeit keine 60 Euro geben konnte?

Alexander, ihr Mann, hatte es ja wieder einmal geschafft: kein Cent mehr in der Kasse, wieder alles in Wodka aufgelöst, schneller, als sie hinterherkam, seine Hosentaschen zu durchsuchen. Und sie hatten so viele Schulden, dass ihnen niemand mehr Geld lieh. Und dann ihre Idee – fast genial! Eine Woche lang hatte sie daran gearbeitet, die Goldplombe mit der Nagelfeile zu lockern. Seltsam – gestern Abend hatte doch ihr Mann schon geschlafen, als sie die Plombe in ihr Ohropax-Gefäß legte. Sie war nicht mehr da. Also würde sie zu Wodka werden und nicht zu Medizin.

In den seltenen nüchternen Stunden war Alexander ein ausgesprochen passables Exemplar Mann, half sogar im Haushalt, auch bei so unangenehmen Arbeiten wie das Klo putzen. Dann benutzte er, wie es sich gehört, seinen Kopf, hatte vernünftige, ab und zu sogar originelle, Ansichten. Tamara schwankte dann zwischen Stolz und der Verwunderung darüber, dass er in ihrem ganzen Freundeskreis als einziger Mann treu war – noch dazu ihr, als halber Portion Frau. Wenn auch, wie sie sogar selbst fand, einer nie schlampigen oder ungepflegten Frau, mit einem fast hübschen, auf jeden Fall lebhaften, Gesicht. War aber ein größeres Quantum Wodka oder Bier durch seine Kehle geflossen, wurde er zum Despoten. Dann straffte er seinen sonst hängenden Bier- und Wodkabauch und sein weiches breitknochiges Gesicht, fegte brüllend oder jammernd durch die Wohnung, hielt Tamara fest und blies ihr gärenden Gestank ins Gesicht oder auf den Bauchnabel, den er dann am liebsten knutschte. Sobald sie seiner Nähe auszuweichen versuchte, auch nur einige Schritte, schrie er, sich aufzuhängen, er sterbe vor Sehnsucht nach Odessa, seinen Kumpeln und dem Meer. Oder er drohte: „Wenn du nicht stillhältst, hole ich die Tschetschenen!“ Nur wenn sie es zuließ, dass er an ihrem Rockzipfel hing wie ein Säugling, beruhigte er sich wieder, stand ihr beim Kochen im Wege, küsste sie ab, während sie im Topf rührte. Und dicht nebeneinander liefen sie dann durch die Wohnung, gemeinsam torkelnd wie siamesische Zwillinge: er wegen des Saufens, sie wegen des Schwindels. Bei dem Manöver des sich Aufsetzens war der Kater von Tamaras Bauch auf das Laken gerutscht, krabbelte wieder auf ihren Schoß. „Der Krebs sitzt nicht nur hinter den Augen, sondern schon im ganzen Tier.“ hatte der Arzt gesagt. Tamara pulte sich das Ohropax aus den Ohren. Der Kater miaute immer noch bei jedem Atemzug. Es klang kraftloser als gestern und hieß bestimmt: „So hilf mir doch!“

Er war jetzt 15 Jahre alt. Sie hatten ihn bekommen, als er eine noch blinde handvoll Kater war. Damals, als Tamara und Alexander auf ihre alten Tage doch noch auswandern durften, sich zwangen, Odessa zu verlassen, obwohl sie damit auch die Hälfte ihres Herzens zurückließen, machte der Kater bereits seinem Namen „Gregor, der Prächtige“, alle Ehre: ein Riesen-Exemplar mit der Würde eines Zaren. Und Wildkatzenblut, blau schimmerndes Fell mit ockerfarbenen Streifen und Handteller-große Ohren, Anmut bei jeder Bewegung. Obwohl seine Krallen spitz wie Nägel waren, hieß er auch noch Gregor, der Sanftmütige. Denn sein Gemüt war aus purem Gold, immer zum Schmusen aufgelegt. Er fauchte nur, wenn ihn jemand am buschigen Schwanz zog. Wenn er den Drang verspürte, vor dem auch Zaren mehrmals täglich nicht verschont werden, machte er es Herrchen und Frauchen so einfach wie möglich. Er stellte sich in das Katzenklo und miaute. Tamara oder Alexander kamen dann mit einem leeren Joghurtbecher angerannt. Der Kater zielte mit seinem festen oder flüssigen Produkt treffsicher in den Becher. So musste die Spreu im Katzenklo tagelang nicht erneuert werden. Bis vor einem halben Jahr. Seitdem begann das linke Auge, sich erst weiß, später gelb, zu verfärben. Seit zwei Monaten passierte das Gleiche mit dem anderen Auge. Der Arzt hatte bestätigt, dass Gregor nichts mehr sehen konnte. Inzwischen waren die Augen so stark angeschwollen, dass sie fast bis zur Nasenspitze reichten, während der übrige Körper abmagerte. Gregor schüttelte jetzt oft den Kopf, als wolle er die Geschwulst hinausschütteln. In die Brust und in eine Tatze biss er immerzu hinein, bis es blutete, als sei da ein unerträglicher Juckreiz. Tamara schüttelte sich. Wieder verloren die Sonnenpunkte jede irdische Kontur, flogen bis ins Bett. Gregor war ihr das liebste auf der Welt. Ein Leben ohne ihn, ihr Baby, konnte sie sich gar nicht mehr vorstellen. Er könnte noch ein halbes Jahr leben, hatte der Tierarzt gesagt, aber nur unter Qualen. Wenn Gregor sowieso sterben musste, dann gleich, ohne noch mehr Leiden! Das war Tamaras Menschenpflicht.

In der Tierarzt-Praxis putzte gerade Ludmilla, eine breitschultrige Ukrainerin, zwei Kopf größer als Tamara. Sie kam schon im dritten Jahr zur Arbeit nach Deutschland, immer um die Weihnachtszeit. Sooft Tamara ihrer Landsmännin im Flur begegnet war, hatte sie ihr Rat und Hilfe im fremden Land angeboten. Jetzt war sie selbst dran. Sie passte Ludmilla nach der Arbeit ab und bat sie, mit nach oben zu kommen.

Der Schrank mit dem Gift ist abgesperrt“, sagte Ludmilla und wischte mit einem Tempotuch ihre Schminke von dem Glas ab, aus dem sie Limonade trank.

Aua!“ Tamara setzte ihr Glas mit einem Ruck ab. Süßes vertrug sie an dem plombenlosen Zahn nicht mehr.

Aber ich habe einen Dietrich“, fuhr Ludmilla fort, „ich bringe dir eine Giftspritze nach oben. Ich helfe dir, ist doch klar, Tamarachen! Ich habe beobachtet, wie das gemacht wird, Frau Klein ist krank, ich bin für sie eingesprungen und habe die Tiere festgehalten. Als wüsste ich schon, dass ich für dich üben soll. Armer Gregor!“

Nein, Ludmilla, auf keinen Fall!“ Tamara riss ihre zu einem eleganten Bogen gezupften Augenbrauen fast bis zum Haar-Ansatz hoch. „Auf keinen Fall! Wir gehen nach unten in die Praxis. In der Wohnung darf er nicht umgebracht werden, auf keinen Fall, nein! Ich könnte hier nicht mehr leben. Du sagst doch, der Arzt fährt Weihnachten immer mit seiner Familie nach Teneriffa. Du darfst doch ein- und ausgehen, du musst doch putzen.“

Ja, aber mit seinen Pflanzen ist er eigen. Die gießt immer Frau Tergen. Also geht es nur an Heilig Abend, da kommt sie bestimmt nicht, denn da sind ihre Enkel aus der Schweiz zu Besuch bei ihr.“

Tamaras Himmelfahrts-Nase näherte sich Ludmillas breitem Gesicht. „Na gut, Ludmillachen, dann an Heilig Abend! Für so einen süßen Kater musst du das schon machen, dann eben an Heilig Abend.“

Ich bin aber spätestens um 20 Uhr verabredet.“

Na gut, dann um 18 Uhr in der Praxis oder? Ja, meine Süße?“

Okay!“

Tamara umarmte Ludmilla. Klein und schmal, wie sie war, verschwand sie fast in den wuchtigen Armen Ludmillas, fühlte sich dadurch ein klein wenig geborgen, trotz der Ungeheuerlichkeit, Gregor töten zu sollen, zu müssen.

Der 24. Dezember war frostig, hell und schneelos. Tamara kleidete sich schwarz, legte auch ihrem Mann, der heute seinen Rausch zum Glück weihnachtlich friedfertig ausschlief, schwarze Sachen neben das Bett auf den Stuhl. Sie kramte in allen Winkeln der Wohnung, sammelte alle Kerzenstummel und Teelichter, holte auch die geschenkten Kerzen aus den Weihnachts-Verpackungen. So kamen 15 Kerzen zusammen. Aus ihnen formte sie auf dem Esstisch ein Katzengesicht und legte Streichhölzer daneben. „Die Totenwache ist fertig. Für dann, wenn wir wieder zu Hause sind.“

Punkt 18 Uhr drückte sie Alexander den gepackten Rucksack und die warmen Mäntel in die Hand und nahm Gregor auf den Arm. Die Türe der Tierarzt-Praxis war angelehnt. Alexander und Tamara schlüpften leise hinein.

Ludmilla hauchte den beiden einen nervösen Kuss auf die Wangen, zog hastig alle Vorhänge zu. Dann zerrte sie den Staubsauger dicht an die Eingangstüre. „Falls Frau Tergen doch hereinschneien sollte, brauchen wir ein paar Barrieren. Hängt eure Mäntel bitte unter meinen Mantel auf den gleichen Bügel und stellt euren Rucksack in die Garderobe zu meinen Sachen!“

Über ihrem feinen dunklen Hosenanzug trug sie einen grünen Arbeitskittel. Sie kramte in den großen Taschen, zog tatsächlich einen Dietrich hervor. Tamara staunte, mit welcher Selbstverständlichkeit und Geschicklichkeit Ludmilla das Schloss öffnete, wie routiniert sie den Dietrich sofort wieder in der Kitteltasche verbarg, wie bedacht sie, nach jedem Griff in den Schrank, seine Türe keine Minute offen stehen ließ, immer mit den Ohren an der Wohnungstüre.

Und tatsächlich – aus dem Flur ein Ruckeln und Bumsen. „Ins Bad mit euch!“ flüsterte Ludmilla und rannte zur Eingangstüre.

Alexander sprang auf das Fensterbrett neben dem Klo, zog die Vorhänge leise zu. Tamara stellte sich, den schlafenden Gregor im Arm, in die Duschkabine und schloss die Schiebetüre aus Mattglas.

Nicht so stürmisch, Kinder!“ konnte Tamara durch die Badezimmer-Türe, die sie in der Eile nur angelehnt hatte, neben Kinder-Gelächter vernehmen. „Ach, Ludmilla, Sie hier am Feiertag?“

Ja, mit Arbeit vertreibe ich am besten die Sehnsucht nach meiner Familie in Kiew, gerade heute, wenn alle anderen feiern.“

Aber Sie wissen: mit dem Ausland telefonieren ist in der Praxis nicht erlaubt.“

Natürlich, Frau Tergen!“

Sowas gibt’s bei euch im Dorf bestimmt nicht, Kinder! Der Saurier ist natürlich am tollsten, ihr könnt ruhig darauf reiten, er ist aus Plastik, aber nein, nicht so wild! Und vorsichtig mit dem Fuchs, er ist ausgestopft, vorsichtig anfassen, auch das Eichhörnchen und den Truthahn dort hinten.“

Frau Tergens Stimme entfernte sich, auch das Kindergeschrei.

Nach einiger Zeit wieder Ludmillas Stimme, ganz nahe: „Ich zeige dir, wo das Klo ist.“

Die Leuchtstoff-Röhre brummte und sprang an. Tamara sah durch die milchigen Scheiben, wie der grüne Kittel eine rot gekleidete kleine Gestalt zum Klo führte. „Habt ihr hier auch ausgestopfte Menschen?“ fragte die Kinderstimme nach einer Weile. Wahrscheinlich deutete die kleine Hand geradewegs auf Tamara.

Nein, das ist nur ein Poster“, antwortete Ludmilla rasch. „Aber das tollste habt ihr noch gar nicht gesehen, das heben wir uns immer für den Schluss auf: Der Reittiger, der brüllt, wenn du dich auf ihn setzt.“

Au ja!“

Das Licht erlosch wieder, die Schritte und Stimmen entfernten sich. Nach einiger Zeit fiel die Haustüre lautstark ins Schloss. Der Staubsauger begann zu brummen. Tamara merkte erst jetzt, dass ihre Knie zitterten, dass ihr übel war, dass sie immer noch die Fingernägel in die Haut der Arme krallte. Sie atmete tief, um die Anspannung abzuschütteln. Jetzt begann in ihr alles zu schlottern wie in einem schlingernden Zug. Gleich, gleich würde das eigentlich Ungeheuerliche geschehen. Und der warme Atem des Katers, der ab und zu ein jammernden Miau in Tamaras Nase blies, würde abbrechen. Ihre Adern peitschten eine Frage ins Denken, schoben die Frage zwischen sie und die Realität: „Wer steht da? Bin ich das? Der Mensch, der Gregorchen töten wird?“

Aus der Realität drang jetzt Ludmillas verblüffend ruhige Stimme an Tamaras Ohr: „Kommt, die Luft ist rein!“

Alles Weitere in der Praxis geschah mit einer befremdenden Ruhe und so, als sähe Tamara dem Ganzen nicht aus sich selbst, sondern aus einer anderen Dimension zu. Sie vertraute Ludmilla beim Mischen der Spritze, denn die Riesin war Krankenschwester, wenn auch für Menschen. Die Flüssigkeit, die sie mit der Spritze aufsog, stank. So stechend roch also der Tod.

Gregor schlief so fest, dass er beim Ansetzen der Spritze nur kurz aufzuckte. Beim Weiterspritzen schreckte er noch einmal hoch, miaute langgezogen, atmete tief und seufzend aus. Einige Zeit später stockte nach einem Miouuuuh sein Atem. Das Papiertaschentuch, das ihm Ludmilla vor die Nase hielt, bewegte sich nicht mehr.

Die Stille danach wurde von einem kurzen und rauhen Schluchzer Tamaras unterbrochen. Mit steifen Schritten holte sie den Rucksack. Mit Händen, die überall anstießen, breitete sie ein rosa Laken mit blauen Katzengesichern auf der Liege aus, legte Gregor in die Mitte. Neben die Nasenspitze legte sie einen schon weichen Camembert, sein Lieblingsfressen. Das Laken band sie an den vier Enden zusammen und formte die Spitze zu einer Schleife. Das Paket versenkte sie in einer schwarzen Plastiktüte, die mit lila Katzen verziert war. Alexander packte die Tüte. „Los! Ab in die Tonne mit ihm!“

Tamara schrie auf. „Nein, wir müssen ihn begraben!“

Also gut, du hast recht! Im Hof, unter der Kastanie!“

Jetzt schrie Ludmilla auf und bat ängstlich: „Nein, um Himmels willen, seid ihr wahnsinnig? Wenn das jemand sieht! Dann merken sie, dass eine Gift-Ampulle fehlt – und denken sich, das kann nur ich für euch geklaut haben. Weg mit dem Kater aus der Wohn-Nähe!“

Auch Tamaras Augen weiteten sich entsetzt. „Nein, nicht im Hof! Es muss ein würdiger Ort sein! Er ist mein Liebster, er muss auf einen Friedhof.“

Gute Idee, sucht euch einen!“ Ludmilla schlüpfte in ihren Mantel. „Ich muss jetzt schleunigst weg. Versprecht mir, Gregor nicht auf dem Hof zu begraben!“

Ja.“„Ja.“

Ludmilla hauchte jedem einen hastigen Kuss auf die Wange, schob die zwei vor die Türe und stöckelte rasch davon.

Alexander und Tamara wohnten in der Nähe der U-Bahn-Station „Kurfürstenstraße“. Alexander schlug den Weg zur U-Bahn ein, knöpfte sich im Gehen seinen Mantel zu. „Kennst du denn einen Friedhof?“

Tamara presste den Rucksack an sich, aus dem der Stiel der kleinen Schaufel unverdächtig wie ein Regenschirm ragte. Erst jetzt im Gehen ließ sie ihren lautlosen Tränen freien Lauf. „Einen Friedhof – wir müssen fragen – ach doch, an der U-Bahnstation „Westend!“ Also am Wittenbergplatz in die U zwei – “

Sie schlug sich an den Kopf. „Alexanderchen, die Friedhöfe haben um diese Zeit alle zu! Wir müssen Gregor doch morgen bei Tage beerdigen!“

Mit einem Seufzer der Erleichterung kehrte Alexander auf dem Absatz um. „Dann halten wir doch oben in der Wohnung die Totenwache neben der Leiche.“

Nein! Nein, habe ich dir gesagt!“ Tamaras Füße konnten wieder stampfen, ihre Kehle wieder schreien. Es fühlte sich wieder oder immer noch wie Leben an. „Tot kommt er nicht nach oben! Ich könnte die Wohnung nie wieder betreten! Die Erinnerung, Alexander, die Erinnerung!“

Ja gut, aber Friedhof geht heute nicht und Hof gar nicht!“

Nur ein Friedhof ist seiner würdig. Wir müssen eben bis morgen früh spazieren gehen.“

Aber die Sarg-Tüte wird immer schwerer.“ „Ist bei Leichen normal.“ „Und diese Kälte!“ „Sei ein Mann, hast schon Schlimmeres ausgehalten! Aber ich habe eine Idee.“

Schon wieder?“ Alexander sah sie misstrauisch an.

Das Einzige, was außer einem Friedhof Gregors würdig sein könnte, ist der Rosengarten.“„Und wo ist der? In Europa?“ „Blödmann, du verschläfst die Welt! Im Tiergarten.“

Alexanders erneuter Seufzer der Erleichterung stand diesmal in Einklang mit der Realität. „Dann kommen wir vielleicht doch noch heute ins Bett!“

Die Straßen waren fast leer. An den meisten Scheiben klebten Licht-Girlanden und Sterne oder Schneemänner. Hinter vorhanglosen Fenstern konnten Alexander und Tamara oft deutlich den sehr unterschiedlichen und kreativen Umgang der Berliner mit Weihnachtsschmuck betrachten.

Im Park waren nur die großen Wege beleuchtet. Der Weg, der, am Rhododendren-Hain entlang, zum Rosengarten führte, lag im Dunkeln. Alexander sah sich immer wieder ängstlich um und beschleunigte seinen Torkelschritt. „Ich habe einen Schatten gesehen, hinter einem Baum, dort hat es auch geknackt. Hier sind doch schon oft Leute überfallen worden!“

Tamara blickte starr in den Halbmond, der gerade einen Augenblick lang den Weg beleuchtete. „Was soll uns jetzt noch passieren? Schlimmer geht es nicht. Gregor ist tot. Es gibt ihn nicht mehr.“

In der Nähe des Rosengartens hörten sie den Verkehrslärm, der einige Zeit fast verschwunden war, wieder deutlicher. Nach dem Passieren der Schwingtüre des Rosengartens blieb Tamara kurz am Eingang stehen, um den richtigen Ort auszuwählen. „Möglichst weit weg vom Straßenlärm. Am besten also nach dieser ersten Schwingtür nach rechts. Und im Schatten der alten Mauer und ihrer Geheimnisse.“

Der Boden war noch nicht gefroren, das Grab rasch geschaufelt. Sie versenkten die Sargtüte aufrecht, mit der Schleife nach oben, bekreuzigten sich und warfen nacheinander drei Schaufeln Erde auf das Laken. Dann knieten sie sich nebeneinander vor das Grab, um zu beten.

Heftige Windstöße wehten Tamaras Augen mit Schneeflocken zu. Sie wehten ihr das Bild der Katerseele in den Kopf. Die sah aus wie ein blauer Schmetterling mit einem buschigen Schwanz und grell-grünen Knopfaugen. Aber sie röchelte. Nein – es war ihr eigenes Röcheln und Husten. Sie wurde gewürgt, riss die Augen auf. Ein Seil lag um ihren Hals – nein, etwas Dickeres: eine Ellenbeuge. In ihre Kniekehlen drückten Gewichte.

Ein heiseres Husten auch aus Alexanders Richtung.

Ein verdammt kleiner Sarg! Ist das etwa das Baby, das vor 10 Tagen entführt wurde?“ hörte Tamara durch die harten Hände hindurch, die sie an Kopf und Nacken festhielten. Sie schielte zu Alexander, auch seinen Kopf hielten Hände mit Handschuhen fest. Über Alexanders Mütze bewegten sich Lippen im Schein einer Taschenlampe. „Betende Mörder? Helmut, wohl ein Fall für dich, für die Psychiatrie!“

Ein Scheinwerfer fiel auf das Grab. Eine beleuchtete Hand zog das Laken an der Schleife nach oben und legte es auf einen Kiesweg.

Und eine Schleife im Sarg – iiiih, die Leiche stinkt schon!“

Zwei beleuchtete Hände zückten ein Messer, schnitten die Schleife vorsichtig ab. Dann brüllendes Gelächter. „Eine tote Katze!“

Der Mann hinter Tamara stimmte meckernd in das Lachen ein und ließ sie los. Es war ein Polizist. Auch Alexander sprang auf. Der Polizist, der ihn festgehalten hatte, schlug sich auf die Schenkel, grölte „Ihre Papiere bitte!“

Er notierte die Personalien, gab dann Tamara und Alexander die Ausweise wieder zurück. „Was Sie da machen, ist verboten. Seuchengefahr für das Trinkwasser! Und haben Sie schon überlegt: wenn das jeder täte! Sie müssen mit 120 Euro Strafgebühr rechnen. Das Ordnungsamt schickt ihnen die Rechnung.“

Tamara liefen wieder Tränen über das Gesicht. Sie band eine neue Schleife aus dem übrig gebliebenen Laken.

Die Polizisten, die weiterkicherten, blieben den beiden auf den Fersen, bis sie den Tiergarten verlassen hatten.

Die heilige Familie hatte Weihnachten eine Unterkunft im Warmen.“ Mit diesen Worten lenkte Alexander seine Schritte in Richtung Wohnung. Aber Tamara zog ihn so energisch in die andere Richtung, als sei sie soeben frisch ausgeschlafen erwacht. „Ich habe eine Idee“, rief sie.

Aha“, erwiderte Alexander, blieb stehen und duckte sich.

Alexanderchen, es ist Weihnachten. Und am meisten Weihnachten ist in unserer Gegend hinter dem Wittenbergplatz, die Tauentzienstraße und den Kuhdamm entlang. Diese schönen Lichtschleifen an den Bäumen und in den Schaufenstern – dort gehn wir wie zwischen den Sternen. So habe ich als Kind immer das Paradies gemalt. Und an all dieser Herrlichkeit tragen wir in dieser heiligen Nacht den Sarg vorbei, eine letzte Ehre für Gregor. So schmuck hatten es Josef und Maria mit ihrem Baby nicht. Und sowas gibt es auch nicht in Odessa.“

Flatter-Haft

 Eine Chronik

Ich muss drei oder vier Jahre alt gewesen sein, als ich den schönsten und wohlschmeckendsten Hahn meines Lebens kennenlernte. Er war Regenbogen-bunt und hatte Augen aus Brombeer- Bonbons. Seine langen Schwanzfedern schillerten königlich wie bei Pfauen. Ich lutschte ihn in Etappen, mit Ehrfurcht und Leidenschaft, trauerte ihm lange nach.

Und noch jemanden gab es damals, der mir nah und vertraut war: den Krieg. Er begann für mich, als Papa über die Straße ging, um meine Freundin Helene zu holen – sie sollte bei mir übernachten. Aber nach einem Blitz- und Donnerschlag – Beides gleichzeitig – blieb er mitsamt Helene verschwunden. Mehr Krieg, noch mehr, gab es, als Mama, auf deren Schoß ich jeden Tag gesessen hatte, wenn sie Klavier spielte, unser Kätzchen suchen ging und auch nicht wiederkam.

Er sah mich an aus den gehetzten grauen Gesichtern der Menschen und den Ruinen meiner vierjährigen Augen im Spiegel. Er umarmte mich mit Trümmer-Landschaften. In seinem Schutz durchquerte und überstand ich Länder und Menschenreste.

Als er zu Ende war, lebte ich bei meinen Großeltern an einem Ort, der Kinder nicht verdiente

• nicht ihre Lustigkeit und Fantasie, nicht ihr Lebensgenie.

Die schwammigen griesgrämigen Erwachsenen meiner Umgebung, auch meine Sorgenfalten- Großeltern – von mir „Sorgenfalter“ genannt – , hatten alle Hände voll zu tun mit dem täglichen Kampf ums Überleben. Trotzdem brachten sie die Freundlichkeit auf, mir ein Dasein unter ihrem Dach zu ermöglichen.

Am Abendbrot-Tisch durfte ich zwischen ihnen sitzen. Mit Ausrufen wie „Das Rückenfleisch ist heute zäh“ oder „Das Bäuchlein ist diesmal schön weich“ schnitten oder bissen sie jeden Abend Stücke aus dem saftigen Fleisch meines Körpers und tischten es auf. Ich erinnere mich, dass es nicht ganz genau so ablief und in jedem Fall ohne Blutvergießen, aber es kam mir so vor.

Am besten schmeckte ihnen mein Gehirn. Meist sonntags, wenn eine frische Tischdecke auflag und die Zeit nicht drängte, schraubten sie durch meine Schädeldecke dünne Röhrchen.

Schmatzend sogen sie daran. Das tat weh. Noch deutlicher erinnere ich mich aber an die danach einsetzende Starre, Entkräftung und den lange anhaltenden Brechreiz.

Danach lag ich nachts meist lange wach und betete, wie das Mädchen mit den Schwefelhölzchen in den Himmel zu dürfen. Um mit dem Jesuskind zu leben und zu spielen. Ganz wurden meine Gebete nicht erhört, aber ein wenig. Denn während ich schlief, wuchsen mir die herausgebissenen Körperteile nach. Nur im Gehirn fehlte weiter irgendetwas, das sich unersetzlich anfühlte.

Die Sorgenfalter priesen täglich mein Schicksal, bei ihnen leben zu dürfen und sahen in jeder Lebensäußerung von mir, die nicht Dankbarkeit beinhaltete, einen Mangel an Frömmigkeit.

Viel lieber als mich hätten sie aber ein Huhn besessen. Es würde, meinten sie, jedes ihm geschenkte Korn freudiger und mit größerer Andacht aufpicken als ich. Und nicht zuletzt kämen dann Eier – „das höchste Glück“, wie sie sagten – auf den Tisch.

Tagsüber, wenn sie ihren Geschäften nachgingen, setzten sie mich zwischen den Gegenständen ihrer Wohnung ab. Ich staune noch heute, dass der Katakomben-stille, dämmrige, feuchte Raum so viel Sauerstoff enthielt, wie ich als Lebewesen benötigte. Er reichte aber nicht, um meiner Puppe, die ich jeden Tag anhauchte, Leben einzuflößen.

Jeden Abend am Esstisch sahen mir meine Großeltern tief in die Augen, um meine Gedanken zu ergründen. Dabei wurde ihr Wille, statt meiner ein Huhn zu besitzen, so mächtig, dass er sich täglich ein Stückchen mehr in meine Gehirnwindungen presste.

Meine Gestalt und noch mehr mein Verhalten begannen, sich zu verändern. Meine Erinnerung daran ist neblig, genau weiß ich aber noch Folgendes: Irgendwann sahen mich meine Augen aus dem Spiegel nur noch starr und glasig an. Und als seien sie Schaltknöpfe, gehorchte ich immer mehr, wie hypnotisiert, den Willenskräften der Blicke meiner Sorgenfalter. Rasch folgten weitere Veränderungen: Eier zu legen gelang mir zwar nicht, aber meine Hände erhoben sich immer wieder zu einem blitzartigen Flattern in die Luft. Wenn ich etwas sagen wollte oder sollte, kam aus meinem Mund oft nur noch ein Stottern, das kein Ende fand, es ähnelte ganz merkwürdig einem Gackern. Zwischen meinen Haaren, die auszufallen begannen, schob sich in der Mitte des Kopfes die Haut zu einem rötlichen Wulst zusammen. Auch im Kreuz verdickte sich ein fingergroßes Stück Haut, wurde hart, als könne hier jederzeit eine Schwanzfeder sprießen. Diese spitze Beule störte mich bei längerem Sitzen und beim Schlafen in Rückenlage. Um mich zu beruhigen, stellte ich mir vor, ich könnte eine Schwanzfeder gut gebrauchen

• zum Beispiel zum verborgenen Aufspießen von Zettelchen, die die Sorgenfalter nicht finden sollten.

Genau an meinem fünften Geburtstag brachte mich Großmutter zum ersten Mal in den Kindergarten.

Die Kinder begrüßten mich mit einem Geburtstagslied. Fünf Kerzen wurden angezündet und ich bekam eine Mütze geschenkt, die meinen Haarausfall und die rote Kopfbeule verbarg. Vor Freude weinte ich und gackerte mein „danke“. Dabei rannten einige Kinder so hastig aus dem Zimmer wie wir früher bei BombenAlarm. Aber nicht bis zur Polizei, denn ihre Augen klebten von außen an den Scheiben. Die fünf Kerzen brannten in eine Totenstille hinein, die ich gut kannte.

Als ich zu den geflohenen Kindern hinauslief, verstand auch jetzt niemand mein entschuldigendes Gackern. Wieder stoben sie davon. Nur aufgeschreckte Gänse, so groß wie ich, suchten mit aufgerissenen Schnäbeln meine Gesellschaft. Das tat mir so gut, dass ich die blauen Flecken, die sie mir in die Haut zwickten, gar nicht spürte.

Obwohl doch meine Entwicklung ihren Wünschen entgegenkam, beklagten sich die Sorgenfalter bei allen, die ihnen zuhörten, vor allem bei mir: „Wann hörst du auf mit dieser Aufsässigkeit und Schande? Wann hören deine Kopfhaut und dein Rückenwulst auf zu wachsen? Wann sprichst du verständlich, wann wirst du ein Mensch?“ Ich schämte mich und versuchte, sie durch Aufmerksamkeiten und Scherze über mich hinwegzutrösten. Wenn ich das tat, wurden die Wülste aber noch größer. Auch durch Singen fröhlicher Lieder versuchte ich sie aufzumuntern, doch auch das mochten sie nicht, das sei eine brotlose Kunst.

Auch ein Jahr später, in der Schule, verstanden die Kinder mein Stottergackern nicht. Zum Schutz vor ihrer Hänselei lag schon am zweiten Schultag in meiner Schultasche das Bilderbuch mit dem Märchen vom hässlichen Entlein. Dort gab es Hoffnung.

Auf dem Nachhauseweg versteckte ich mich, wenn es nicht regnete, in Scheunen oder im Wald, legte meine Hände auf die Bilder des hässlichen Entleins wie auf einen Talisman. Danach blickte ich mir in einem Spiegelchen fest in die Augen und murmelte sieben Mal: „Ich will ein Mensch werden oder sterben. Lieber Gott, lieber Herr Christian Andersen, helft mir!“ Am Ende der ersten Klasse erblickte ich im Spiegel ein zweites Augenpaar. Dann legten sich zwei Hände von hinten über meine Augen. Sie gehörten Andreas von nebenan, der schon in die zweite Klasse ging.

Von da an streiften wir zusammen durch den Wald und die Stadt, stahlen aus schlecht bewachten Gärten Blumen oder suchten Gewehrkugeln und Kippen. Sie lagen in den Rinnsteinen und Ritzen der Straßen. Mit den Glitzerkugeln spielten wir Murmeln. Mit den Kippen und Blumen zähmten wir schimpfende Verwandte und Nachbarn. Der Wald war für uns gedeckt, wir konnten uns sattessen an Blaubeeren, Himbeeren, Brombeeren. Wie Hänsel und Gretel gingen wir Hand in Hand. Wenn ich mit Andreas zusammen war, schrumpften meine Wülste ein wenig – auf jeden Fall kam es mir so vor – oft fühlte ich mich dann auch wieder menschähnlich.

Und irgendwann sahen sogar meine Augen wieder aus wie früher.

An langen Sommertagen durfte ich abends länger aufbleiben als Andreas. Oft setzte ich mich dann abends bei ihm auf die Bettkante, wenn er schlafen gehen musste. Als das seine Eltern bemerkten, guckten sie immer wieder ins Zimmer, flüsterten und schüttelten den Kopf. Am nächsten Tag holten sie die Sorgenfalter, die uns wie gehetzt durch die offene Zimmertüre beobachteten.

Nicht lange danach tauchte auch meine Klassenlehrerin auf und glotzte uns stirnrunzelnd an.

„Wir müssen dich vor einem Abgleiten auf die schiefe Bahn bewahren“, verkündeten mir bald darauf die Sorgenfalter und gaben mich in ein Kinderheim.

Da die Heimleiterin sehr fromm war und nur von Sünde redete, konnte man auf ihrer Stirn, wenn man die Augen zukniff, deutlich ein dunkles Kreuz sehen. Deshalb wurde sie genau so oft angestarrt wie ich. Dieses Teilen begutachtender Blicke entspannte mich so sehr, dass meine Gewächse von neuem etwas schrumpften. Das immerwährende Drohen der Heimleiterin mit der Hölle erinnerte allerdings an die Sorgenfalter. Hier im Heim gefiel es mir aber besser, weil ich Geschwister hatte und manchmal Erzieherinnen, die uns Kinder verdienten.

Das Personal wechselte oft. Leider verschwand auch Schwester Barbara schon nach einem Jahr. Sie mochte uns Kinder und wir alle liebten sie. Gegen ihren Willen wurde sie in ein Altersheim versetzt. Wir Kinder demonstrierten vor der Kirchenverwaltung. Ich fühlte mich dabei gerecht und stark, ganz Mensch, flatterte vielleicht aus diesem Grund kein einziges Mal mit den Armen. Ich weiß es nicht genau, aber gleich oder kurz danach kam es mir vor, als könnte ich die Arme viel länger stillhalten als zuvor. Dass die Kirche unser Anliegen ignorierte, spielte dabei anscheinend keine Rolle.

Eines Morgens wachte ich auf und wusste, dass irgendetwas besonders war. Beim Beerenessen im Wald hatte ich Andreas wieder getroffen. Er hatte ein maßloses Lächeln, Grinsen und Lachen, als lebe er auf Flügeln, außerhalb von Raum, Wetter und Zukunft.

Noch in der gleichen Nacht betrat ich im Traum mit ihm das Paradies: Dort waren, wie auf der Arche Noah, alle Tierarten der Welt versammelt. Sie standen auf einer Wiese und küssten sich: suchten sich dabei das Tier aus, das ihnen am gegensätzlichsten vorkam. So küsste eine Maus einen Elefanten; ein Pelikan mit seinem langen spitzen Schnabel eine Flunder; ein Rehkitz mit scheuen Augen einen Löwen; eine Gazelle ein Nashorn.

Unter uns am Meer stand eine Menschenmenge, die uns zuwinkte. Der Pfad zum Meer war von Blumen übersät, jede groß wie ein Sonnenschirm. Andreas und ich hüpften hinein. Die Kelche federten wie Trampoline. Von Blume zu Blume sprangen wir nach unten. In der Luft küssten wir uns.

Als ich am Morgen aus diesem Traum erwachte, wollte ich, wie gewohnt, meine rote Beule mit Schminke zukleistern – es war endlich nicht mehr nötig: Sie verschwand unter dem wieder dicht wachsenden Haar.

Mit dem realen Andreas war nicht alles so einfach und paradiesisch, aber mit meiner Gewissheit, wieder ein Mensch zu sein, war ich Schwierigkeiten gegenüber gut gerüstet.

Als ich, den Schulabschluss in der Tasche, das Kinderheim verließ, war auch meine Rückenbeule nur noch ein narbiger Rest. Ich konnte wieder klar sprechen, mit den Armen zuckte ich nur noch selten. Die Kopfbeule schwillt allerdings noch heute ab und zu an, sieht dann aus wie ein schwammiges Muttermal und juckt. Das passiert, wenn ich mit meinen Sorgenfaltern oder Menschen, die ihnen ähneln, zu tun habe.

Das zeigt mir, dass ich die Flatter-Freiheit noch nicht ganz erreicht habe. Aber dieser Rest stört mich nicht mehr.

Aber – und damit will ich diese Chronik schließen – : Etwas Anderes stört und beunruhigt mich: dass ich bei vielen Menschen, bei Erwachsenen und noch öfter bei Kindern, Ansätze von roten Wülsten und Schwanzfedern erkenne, als hätte ich einen Röntgenblick. Ich kenne zum Glück viele Menschen mit Röntgenblick, aber die Heerschar der Hypnotisierten, die sich wie Hühner verhalten und tyrannischen Menschen dienen, ist so immens groß, dass ich gar nicht weiß, wo ich beginnen soll, an einer Veränderung mitzuwirken. Vielleicht ist das ja Stoff für eine Chronik der kommenden Jahre.